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1.Tag - Montag, 21. August 1995

Nachdem Manni sich morgens um sieben auf den Weg zur Arbeit gemacht hat, schlafe ich noch ein bißchen aus, bevor ich mich so gegen neun aus dem Schlafsack pelle. Schnell ist die Morgentoilette erledigt, dann geht's ans Sachen packen. Und siehe da: irgendwo kommt auch die vergessen geglaubte Jeans wieder ans Tageslicht, so dass ich Manni's Hose, die mir am Vorabend erspart hatte, halb nackt durch die Münchner Kneipen zu ziehen, dalassen kann. Dann schleiche ich mich noch unauffällig an der "Empfangsdame" vorbei, packe mein Gepäck aufs Rad, und gegen halb elf geht's los. Zuerst mal mache ich mich wieder auf den Rückweg zum Bahnhof, auch wenn der nördlich liegt, um mittels des dortigen Stadtplans den Weg aus München hinaus zu finden. Mir gelingt es auch, im Handgreif eine Route zu entwickeln, die mir nur in Ausnahmefällen das Fahren entgegen der Einbahnstraßen zumutet, und schon bin ich Richtung Süden unterwegs durch München. Die Fahrt aus der Stadt wird nur bei einem Optiker kurz unterbrochen, wo ich mir neue Lösungen für meine Kontaktlinsen kaufe.

Landstraße südlich von München
Wenige Kilometer südlich von München. Die Landstraße hat sich endlich von der Autobahn getrennt und führt jetzt durch ein Waldgebiet.

Als die Straße gegen Mittag die letzten Vororte von München hinter sich läßt, nähert sie sich einer Autobahn und verläuft für eine Weile parallel zu ihr. Nicht besonders romantisch, aber solange ich nicht auf der Autobahn selber fahren muß ... Irgendwann bessert sich der Straßenverlauf; die Landstraße entfernt sich von der Autobahn und führt durch ein Waldgebiet Richtung Starnberger See.
Am Ostufer des Starnbergers Sees gibt es ein kleines Sträßchen, das recht romatisch zwischen entlegenen Einfamilienhäusern hindurch und letztlich direkt am Ufer entlangführt. Hier mache ich auch meine erste "richtige" Rast, esse einen Happen, und genieße den Blick über den See, auch wenn das Wetter nicht so übermäßig toll aussieht. Wieder versuche ich, den Trittfrequenzmesser, der bei meinem Fahrradcomputer dabei ist, zu justieren, aber ich schaffe es nicht, ihn für längere Zeit zum Funktionieren zu bringen. Viel später erst, als ich schon lange wieder zu Hause in Bonn bin, soll ich feststellen, dass das Problem nicht in der Anbringung des Sensors lag, sondern in der Kabelverbindung zum Computer selbst.

Die Straße verläuft am Seeufer entlang nach Seeshaupt. Irgendwo biege ich ab Richtung Penzberg, aber kurz vorher werde ich von einem stärkeren Regenguß überrascht, so dass ich mich erst mal für eine halbe Stunde unterstellen muss. In diesem Moment erreiche ich meinen ersten Tiefpunkt, von denen ich in den ersten zwei, drei Tagen noch mehrere haben sollte. Einen Punkt, in dem man sich fragt "Warum mache ich sowas überhaupt? Warum sitze ich nicht bei Kaffee und Kuchen zuhause auf meinem Sofa vor der Glotze?" Aber diese Tiefpunkte hat man halt; dennoch würde wohl kaum ein Reiseradler sein Leben mit dieser kurzfristigen Wunschvorstellung tauschen wollen. Auch ich nicht, und als der Regen nachläßt, fahre ich weiter durch die südbayerischen Wälder und Ebenen.

Die Orte, die man passiert, tragen Namen wie Sindelsdorf oder Großweil-Kodel. Während ich so über diese Landsträßchen fahre, lasse ich meine Gedanken abschweifen, denke an die letzten Tage vor dieser Tour, auch an meine nicht zustande gekommene Beziehung zu Sabine. Auch an "The 3rd and the Mortal", eine norwegische Band, deren einer Song mir im Hirn rumschwirrt und der mich die nächsten drei Wochen begleiten wird. Aus diesen Gedanken werde ich allerdings mal herausgerissen, als mir eine Kuhherde entgegenkommt, mit einem vorneweg fahrenden Traktor und einem neben der Herde (also quasi auf dem Mittelstreifen) laufenden Kuhhirten. Seit mich mal eine freilaufende Kuh fast von meinem Motorrad befördert hat, habe ich - zumindest im Straßenverkehr - einen ziemlichen Respekt vor diesen Tieren.

Gegen vier Uhr nachmittags nähere ich mich dem Kochelsee, meinem ersten Tagesziel. Allerdings muss ich ihn noch halb umrunden, um auf dem auf der Karte ausgesuchten Campingplatz anzukommen - wobei ich mir momentan noch nicht mal sicher bin, ob ich dort wirklich bleiben oder lieber noch zum Walchensee weiterfahren will. Momentan fährt es sich nämlich recht gut, und die Landschaft ist hübsch. Ja, dieses Attribut trifft es wohl am besten: Es geht an Schilfgürteln entlang, die sich am Westufer des Kochelsees breitgemacht haben, und es ist nach dem Regenguß vom frühen Nachmittag nochmal recht warm geworden. Also bin ich eigentlich recht guter Dinge. Aber nachdem ich das Nordufer des Sees umrundet habe, fängt es just, als ich an dem möglichen Campingplatz vorbeifahre, wieder an zu regnen, und vor mir liegt eine mächtige Steigung, die auch noch durch dunkle Fichtenwälder führt. Also zähle ich die Faktoren dunkler Wald, Regen und Steigung (also größere Höhen) zusammen und entschließe mich, im vielleicht etwas wärmeren Tal zu bleiben. "Camping Menten" hat in der kommenden Nacht einen weiteren Gast.

Während dem Aufbau des Zeltes, das aufgrund seiner speziellen Form direkt Aufmerksamkeit erregt, werde ich von einem kleinen Jungen auf meine Reise hin angesprochen. Wo ich denn hin wolle. Meine ehrliche Antwort kommentiert er mit "Dann können Sie ja gleich bis nach Amerika fahren!" Meine Bemerkung, Italien sei doch viel näher als Amerika, und außerdem sei kein Ozean dazwischen, scheint ihn allerdings nicht so richtig zu überzeugen.
Danach mache ich mich erstmal (es hat mittlerweile wieder aufgehört zu regnen) auf den Weg nach Kochel, bewaffnet mit meiner leeren Kocher-Spritflasche. Aber der Tankwart im Ort guckt mich nur verständnislos an und schüttelt den Kopf. "Wie wollen Sie denn mit dem Zapfhahn in diese Flasche kommen" fragt er in bayerischem Dialekt. Da ich auch keine Ahnung habe, ziehe ich erfolglos wieder von dannen. Dann bleibt die Küche heute eben kalt. Aus einem kleinen Supermarkt nehme ich mir noch etwas Brot, Wurst und andere Kleinigkeiten mit, und fahre zurück zum Campingplatz. Dort treffe ich ein ungarisches Pärchen, das durch die Alpen trampt. Sie erzählen mir von Wasserfällen, die es in der Nähe des Campingplatzes gibt, und was sie sonst noch alles Schönes auf ihrer Reise gesehen haben.

Der Kochelsee
Der Blick vom Campingplatz aus über den Kochelsee. Das Wetter sieht nicht so einladend aus, aber Schwimmen muss sein.

Da ich ja jetzt nun schonmal an einem See zelte, muß ich aber auch schwimmen gehen. Okay, die Sonne ist etwas zurückhaltend, aber da wir doch noch über 20 Grad haben, und das Wasser Ende August wohl auch nicht so kalt ist, wage ich es. An einer seichten Stelle stapfe ich ins Wasser und drehe ein paar Runden. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass ich der einzige bin, der hier schwimmt. Überhaupt ist nicht übermäßig viel Leben auf diesem Campingplatz. 30 Meter weiter links steht ein Angler. Ob der sich freut, wenn ich ihm mit meiner Schwimmerei die Fische vertreibe?
Danach gehe ich erstmal duschen. Kalt natürlich. Erstens ist es billiger (weil umsonst), zweitens erfrischender. Zwar kann ich mir selber die Frage nicht beantworten, warum ich jetzt eigentlich erfrischt sein muss, weil auf diesem Campingplatz eh eine ziemliche Langeweile herrscht. Aber mittlerweile ist es auch schon dunkel, und da ich diesen ersten Tag schon ein wenig in den Beinen spüre, habe ich letztendlich auch nichts dagegen, mich schon ins Zelt zu verkrümeln. Ich studiere meinem Reiseführer noch ein wenig im Schein einer Taschenlampe, bevor ich das Licht ausmache und noch eine Weile mit offenen Augen über meine Pläne nachdenke und den - allerdings sehr verhaltenen - Geräuschen der Wellen lausche, die ans Ufer schlagen.