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16.Tag - Dienstag, 5. September 1995

Frühstück am Seeufer
Frühstück am Sarner See, diesmal am Strand und nicht - wie am Vortag - im Zelt.

Am nächsten Morgen ist es wiederum sehr kalt, aber deutlich trockener als am Vortag. Das gute Wetter leistet seinen Beitrag zu meiner Stimmung, und ich beschließe, mein Frühstück auf den kleinen Felsen am Ufer einzunehmen. Erstmal Kaffee aufschütten, dank meines Ortlieb-Filters kein Problem. Überhaupt bin ich erfreut, wie problemlos meine Ausrüstung bisher ihren Dienst getan hat: Mein Kocher lief immer, wenn ich es wollte, und auch Artaq hat immer treu seine Aufgaben erfüllt - mal abgesehen von den beiden Plattfüßen, die keine akute Ursache hatten, sondern wohl einfach von dem hohen Gewicht meines Drahtesels verursacht wurden. Obwohl ich mich schon frage, ob sich mit der heutigen Technik nicht auch Fahrradschläuche herstellen lassen sollten, die sowohl einem gewissen Überdruck als auch der mechanischen Belastung im praktischen Einsatz gewachsen sein sollten. Ja, und mein Bordcomputer hat - abgesehen von der nicht funktionierenden Trittfrequenzmessung - auch keinerlei Schwächen gezeigt. Und den brauche ich schließlich, um die gefahrenen Kilometer zu dokumentieren.

Neben Kaffee und Brot gehört auch eine Banane zum Frühstück. Ich esse mich satt - ein Unterfangen, bei dem man immer achtgeben muss, sich die Wampe nicht allzu sehr vollzuschlagen - da ich heute den letzten Paß über 1000 Meter vor mir habe. Doch zunächst verabschiede ich mich von meinen Zeltnachbarn und schiebe das Rad zwischen den Wohnwagen und Blockhäuschen auf die Straße. Dann steige ich auf und fahre los Richtung Süden. Die Straße hat mich wieder!

Meine Karte zeigt, dass es neben der Hauptstraße nach Süden noch eine kleine Landstraße gibt, die westlich des Sarner Sees entlangführt. Die nehme ich auch, um zu starkem Verkehr aus dem Weg zu gehen. Zwar kann ich hier recht geruhsam am See entlang fahren, aber in Giswil, dem nächsten Ort, werde ich erstmal in die Irre geführt. Ein Radweg ist hier ausgeschildert, der nach rechts in den Wald führt. Dieser scheint jedoch nur eine Art Ortsumgehung für Radfahrer darzustellen, denn nach etwa einem Kilometer über Wald- und Schotterwege gelange ich wieder auf eine Straße (diesmal ohne Beschilderung), die mich um die Südspitze des Sees herum zurück zur Hauptstraße bringt. Trotz der etwas misslungenen Ausschilderung bin ich zufrieden, da ich die Hauptstraße soweit wie möglich vermieden habe - bevor ich kurz darauf feststelle, dass auch auf dieser kaum Verkehr ist.

Blick zurück während der Auffahrt zum Brünigpass
Nach einer kurzen Abfahrt geht es direkt wieder bergauf. Hier der Blick zurück ins Tal.

Nun beginnt die Straße langsam anzusteigen - war ja auch zu erwarten, da ich ja irgendwie etwas über 500 Höhenmeter überwinden muss. Zunächst geschieht das im Flußtal, aber bald schlängelt sich die Straße links am Hang nach oben. Nach einigen Kilometern fahre ich über einen kleinen Paß, und direkt danch beginnt eine kurze Abfahrt, welche mir herrliche Aussichten auf den vor mir liegenden Lungerner See offenbart. Unten angekommen fahre ich auf einen kleinen Rastplatz und gönne mir ein zweites Frühstück. Bei der Weiterfahrt komme ich durch das kleine Dörfchen Kaiserstuhl, das einem Bildband des hiesigen Tourismus-Verbandes entsprungen sein könnte. Die Landschaft ist zwar nicht typisch Schweizerisch-alpin, eher mittelgebirgig, dennoch erscheint mir dieses Dorf als Inkarnation deutscher Rentner-Urlaubsträume - was jetzt keineswegs negativ zu werten ist. Alle paar Minuten kommt hier wohl mal ein Auto durch, alles wirkt gemütlich, ja geradezu verschlafen. Hier scheint die Welt tatsächlich noch in Ordnung zu sein.

Der nächste Ort, Lungern, der dem kleinen See zu meiner Rechten seinen Namen gab, ist auch nur unwesentlich größer oder geschäftiger. Die Straße beginnt hier langsam wieder anzusteigen, erst gemächlich, später dann steiler. Hier gibt es kein Flußtal mehr, in dem die Straße verlaufen könnte. Der See endet ziemlich abrupt, und ein Bächlein scheint sich recht steil von Süden her in ihn zu ergießen. Zu steil für den Straßenbau jedenfalls. Daher windet sich die Straße in Serpentinen nach oben. Hier wird es auch wieder etwas kühler, und der Laub- und Mischwald weiter unten wird langsam durch Nadelwald abgelöst. Aber irgendwann wird die Steigung wieder etwas harmloser. Hier bin ich wohl schon auf knapp 950 Metern, und über weitere drei oder vier Kilometer steigt die Straße nur noch wenig an, um am 1008 Meter hohen Brünigpass ihren höchsten Punkt zu erreichen.

Der Brünigpass: 1007 Meter
Noch ein denkwürdiger Moment: Der letzte Paß über 1000 Meter auf dieser Tour.

Der Brünigpass ist nicht nur ein Pass, sondern auch eine Gedenkstätte für Militär-Motorradfahrer. Daneben befindet sich natürlich noch ein Gasthaus kurz vor der Paßhöhe. Da ich dort aber nicht einkehren will, begebe ich mich gleich an die Abfahrt, welche mich wieder über mehrere hundert Höhenmeter hinunter in das Flußtal der Aare fürt.

Während der Abfahrt halte ich an einer Stelle, die einen guten Blick nach Osten gewährt, Richtung Aareschlucht. Am Eingang dieser Schlucht treffen sich zwei von Osten kommende Straßen: die Nummer 11, die vom Sustenpaß nach Westen hinunter führt, und die Nummer 6, vom Grimselpaß (und damit auch vom Nufenenpaß und Furka-Paß) kommend. Schon interessant zu sehen, wo ich rausgekommen wäre, wenn ich nach (oder vor) der Gotthard-Überquerung links abgebogen und einen weiteren Paß in Angriff genommen hätte, anstatt weiter bergab zum Vierwaldstätter See zu fahren. Hier schließt sich also irgendwie ein Kreis: Es gibt zwei Straßen von der Leventina im Tessin nach Westen, und wenn man die nicht nehmen will, muss man eben, so wie ich es gemacht habe, um den Vierwaldstätter See herum gurken. Irgendwie genauso interessant, aber auch beängstigend, ist die Tatsache, dass man sich in dieser Hochgebirgsregion wirklich nur über hohe Pässe fortbewegen kann. So kommt es denn auch, daß sich zwischen den passierbaren Straßen grandiose, mehr oder weniger unerschlossene Hochgebirgslandschaften befinden. Naja, was man halt so in Mitteleuropa als unerschlossen bezeichnet. Südlich von meinem momentanen Standpunkt, zwischen Aare und Rhone, befinden sich zum Beispiel die Berner Alpen mit dem Jungfraujoch. Noch weiter südlich, zwischen Rhone und dem italienischen Aostatal, schließen sich die Walliser Alpen an, zu denen nicht nur das Matterhorn gehört, sondern in denen sich auch schon vom Namen her an Berge und Skiurlaub erinnernde Ortschaften wie Zermatt oder Saas Fee befinden. Ich nehme mir vor, vielleicht nochmal zum Bergwandern in diese Region zurückzukehren, und setze meinen Weg Richtung Interlaken fort.

(Hoffentlich) Wasserfeste Architektur
Ein Dorf am (oder im) See.

Nach dem kleinen Städtchen Brienz führt die Straße in südwestlicher Richtung am Nordufer des Brienzer Sees entlang. Das Südufer ist zwar landschaftlich eindrucksvoller, wird jedoch zum großen Teil von einer Autobahn beansprucht, die mit einigen Tunneln am Steilufer untergebracht wurde. In Interlaken gönne ich mir eine kleine Pause an der Seepromenade - nicht etwa, weil diese so besonders schön wäre, sondern weil ich Hunger habe. Danach führt die Bundesstraße (die jetzt beide Nummern, 6 und 11 trägt) am Südufer des sich westlich an den Brienzer See anschließenden Thuner See entlang. Es gibt jedoch auch eine Nebenstraße am Nordufer, für die ich mich entscheide. Belohnt werde ich nicht nur mit weniger Verkehr, sondern auch mit einer angenehmen Fahrt durch bereits herbstlich wirkende Laubwälder, immer mit Blick auf den See. Die sogenannten Beatushöhlen werben mit einem Schild am Straßenrand um die Gunst der Touristen, aber mir ist momentan mehr nach Radfahren als nach Höhlenforschung zumute. Die Orte, die ich hier durchquere, sind allesamt recht malerisch, mit alten Gebäuden und zum Teil mit in den See hinein gebauten Dorfstrukturen.

Auf Waldwegen von Thun nach Bern
Auch auf solchen Wegen kann man auf einer internationalen Radtour landen: Auf dem garantiert autofreien Weg nach Bern.

Im Berner Oberland scheint das Radfahren ein recht beliebter Zeitvertreib zu sein. In Thun ist ein Radweg nach Bern ausgeschildert, den ich dann auch unter die Räder nehme. Er führt an der Aare entlang auf einen schmalen Waldweg. Fernab vom Autoverkehr lege ich einige Kilometer zurück, bevor ich wieder auf die Straße muss. Aber auch hier läßt sich gut fahren: Kleine Sträßchen, die durch Wiesen und Felder führen, bestimmen das Bild. Beim Überqueren einer Brücke halte ich kurz an und werfe noch mal einen Blick zurück auf die höchsten Berge der Schweiz. Wie harmlos sie doch da hinten am Horizont rumstehen. Einerseits werde ich bei diesem Anblich schon ein wenig melancholisch, da mir klar wird, dass die Alpen mit ihren majestätischen Dreitausendern nun eindeutig hinter mir liegen, aber irgendwie bin ich auch froh, keine allzu hohen Pässe mehr vor mir zu haben.

Die Weiterfahrt nach Bern verläuft recht unspektakulär. Es erweist sich lediglich als ein kleines Kunststück, den auf meiner Karte eingezeichneten Campingplatz zu finden. Das ist allerdings auch nichts neues mehr. An einer Tankstelle in einem Berner Vorort frage ich nach und erfahre, dass der Platz gar nicht in Bern selber liegt. Die nette Verkäuferin schickt micht erstmal ein Stück des Weges zurück und beschreibt die Weiterfahrt. Demnach muss ich also erstmal hinunter zur Aare und an dieser entlang ein wenig nach Süden fahren. Dann kommt eine kleine Holzbrücke, und auf der anderen Seite müsste ich halt nochmal suchen. Genau das mache ich dann auch. Die Suche führt mich erstmal wieder aus dem Flußtal hinaus, und über Forstwege und Nebenstraßen gelange ich nach Wabern. Dort erblicke ich doch tatsächlich ein Schild mit der Aufschrift "Camping". Dass ich zum Erreichen des Campingplatzes wieder ins Flußtal runter fahren muss, ja der Campingplatz quasi direkt an der Aare liegt, bräuchte ich eigentlich gar nicht mehr zu erwähnen.

Der Platz selber, Camping Eichholz, überascht mich allerdings sehr positiv. Der Preis ist sehr niedrig, und während man auf anderen Plätzen mit dem Zelt meist irgendwie auf die Hundewiese verbannt wird, gibt es hier nur einen kleinen Bereich für Wohnwagen. Für die Zelte steht dagegen eine riesige Wiese zur Verfügung, die jetzt, im September, ziemlich leer ist. Außerdem gibt es keine Platznummern oder Ähnliches; man sucht sich einfach eine schöne Ecke und baut auf. Die relative Leere hat jedoch auch den Nachteil, dass man nicht notgedrungen mit anderen ins Gespräch kommt, also genieße ich einfach eine gewisse Ruhe während des Abendessens und mache es mir irgendwann im Zelt bequem.