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4.Tag - Donnerstag, 24. August 1995

Erstaunlicherweise habe ich heute morgen keinen Kater - erstaunlicherweise deshalb, weil ich es nicht gewohnt bin, eineinhalb Liter Rotwein pro Abend in mich reinzuschütten. Meine Trinkgenossen vom gestrigen Abend sind schon lange auf den Beinen. Speziell Jürgen hat es recht eilig heute morgen, da er noch ziemlich weit nach Ungarn reinfahren will. Peter hat etwas mehr Zeit: er will nur eine Paßrundfahrt machen und wird die kommende Nacht auch wieder hier verbringen. Mit ihm tausche ich während des Frühstücks noch Adressen und Telefonnummern aus, bevor ich mich - nach Abbau des Zeltes und dem Gang zum Altglascontainer - gegen 10 Uhr auf die Weiterfahrt mache.

Zum Glück geht die Straße heute morgen so weiter, wie sie gestern abend endete: Mit einem leichten Gefälle. In Brixen halte ich an einem Supermarkt noch mal kurz an, um mich mit Getränken und Snacks zu versorgen, bevor es auf dieser Straße weiter nach Süden und Richtung Bozen geht (das ja eigentlich Bolzano heißt, genauso wie Brixen eigentlich Bressanone genannt werden müßte). Durch die kühle klare Luft in diesem streckenweise recht engen Tal wird mein Kopf alsbald klarer, und die Fahrt macht wieder Spaß. Nach einigen Kilometern kommt ein Kleinwagen, hupend und mit Blinklicht, an mir vorbei. Was das bedeutet, stelle ich kurz danach fest, als ich von einem bestimmt 30 Meter langen Tieflader überholt werde, der eine komplette Brücke geladen zu haben scheint. Ansonsten verläuft der Vormittag relativ ereignislos.

Bevor ich in Bozen ankomme, muss ich mich erstmal durch eine Baustelle hindurchfinden, und danach stellt sich heraus, dass die Umgehungsstraße für Fahrräder gesperrt ist. Also fahre ich nach Bozen hinein - und verfahre mich prompt. In der Innenstadt von Bozen nutzt mir meine Straßenkarte im Maßstab 1:300.000 recht wenig. Umso hilfreicher ist der Kompaß, da ich weiß, dass ich nach Süden muß. Ein Passant, den ich nach dem Weg frage, reagiert mit einem unfeundlichen Schulterzucken und geht weiter. Ist der stumm? Ich frage mich, ob diese Unfreundlichkeit typisch für diese Ecke Südtirols sein mag. Zwar finde ich darauf keine Antwort, aber irgendwann meinen Weg aus der Stadt heraus. Einigen Umleitungsschildern folgend lege ich sicher einen viel größeren Weg zurück als die Autos auf der Umgehungsstraße, aber dafür lande ich auf einer ruhigen Nebenstrecke, die in dem nun offeneren Tal für einige Kilometer parallel zur Hauptroute nach Süden führt.

Die oberitalienische Weinstraße und Kalksteinfelsen im Trentino
Eine typische Szene im Trentino: Kalksteinfelsen, ruhige Sträßchen, viel Sonne und Gegenwind. Letzterer ist auf dem Foto nicht zu sehen.

Während ich auf dieser "oberitalienischen Weinstraße" weiter nach Süden fahre, wird es immer wärmer. Kein Wunder - der Wind kommt von Süden. Das heißt aber auch Gegenwind. Die Landschaft ist zwar herrlich, aber der Wind wird teilweise so stark, dass ich ernsthaft überlege, abzusteigen und auf dieser - ebenen - Strecke zu schieben. Aber das ist mir dann doch zu albern. Ich fahre also weiter, immer in den unteren Gängen, und nach und nach gehen meine Getränkevorräte zu Neige. Erst nachdem ich bestimmt zwei Stunden ohne Flüssigkeitsaufnahme gefahren bin, lande ich in einem Ort, der einen Supermarkt beherbergt. Aber dann auch einen richtig großen, wo die Preise mich dazu verleiten, lieber etwas mehr als zu wenig zum Trinken einzukaufen. Ich habe zwar noch einige Kilometer vor mir, aber der ausgesuchte Campingplatz liegt in Trento, also in diesem Tal, so dass ich heute keine Berge mehr hoch muss - denke ich.

Zwar hört in diesem Ort die malerische Nebenstrecke auf, aber dafür scheint hier ein Radweg anzufangen, auf dem es auch zügig vorwärts geht. Feinster Asphalt, keine Autos, Flußauen um mich herum - so läßt es sich fahren. Dummerweise führt mich der Radweg nach noch nicht mal 20 Kilometern in die Irre, so dass ich ein gutes Stück zurück fahren muß. Ich frage einen anderen Radfahrer, wo es hier denn bitte langgeht, und während er vor mir dem richtigen Weg entgegenfährt, kommen wir ins Gespräch - sofern man das bei meinem dürftigen Italienisch und seinem auch nicht besseren Deutsch so bezeichnen kann. Mir fällt mal wieder auf, dass jemand wie ich, der mit Sack und Pack und Fahrrad unterwegs ist, doch ein gewisses Interesse hervorruft. Welches ich allerdings nicht lange befriedigen kann, da der Kerl auf seinem Rennrad und ohne Gepäck wieder eine ganz andere Gangart einschlägt, sobald er weiß, dass ich den weiteren Weg alleine finde.

Radweg in Oberitalien
Sogar in Italien scheint es richtige Radwege fernab des Autoverkehrs zu geben.

Nach einigen weiteren Kilometern, diesmal auf der Hauptstraße, komme ich um kurz nach fünf ziemlich erschöpft in Trento an ... und suche vergeblich den auf meiner Karte eingezeichneten Campingplatz. Ich weiß, er soll zwischen Straße und Fluß leicht nördlich des Stadtzentrums liegen. Also begebe ich mich auf den am Ufer entlangführenden Rad- und Fußweg. Nach einer Weile bin ich dann im Stadtzentrum, ohne einen Campingplatz gesehen zu haben. In meiner Ratlosigkeit wende ich mich erstmal Richtung Bahnhof, und der dort aushängende Stadtplan stimmt mit meiner Karte überein. Also nochmal zurück, und diesmal Augen aufhalten. Aber kein Campingplatz weit und breit. Selbst Passanten, die ich frage, wissen nichts von einem Campingplatz. Etwas später, während der Unterhaltung mit einer jungen Italienerin (bei der ich ganz stolz meine spärlichen Sprachkenntnisse anbringe) sollte ich dann erfahren, dass man genau diesen Campingplatz, der offenbar noch auf allen Karten eingezeichnet ist, schon vor einigen Jahren in eine flußnahe Grünanlage umgewandelt hat.

Da der Campingplatz also nicht mehr existiert, suche ich den nächsten auf meiner Karte heraus. Etwas westlich außerhalb der Stadt ist einer eingezeichnet. Ich entschließe mich trotz der bereits zurückgelegten Strecke von über 110 Kilometern, diesen Campingplatz aufzusuchen. "Dafür wird die morgige Strecke kürzer" sage ich zu mir, und mache mich auf den Weg - nicht ohne mich vorher noch an einer Tankstelle zu vergewissern, dass dieser Campingplatz tatsächlich existiert und ich auf dem richtigen Weg bin.

" Nächste Camping otto chilometri." sagt der Tankwart und zeigt in Richtung der SS45bis. Also den Berg hoch. "Lange Tunnel." sagt er anschließend, und der Kombi-Fahrer, der gerade den Tank voll hat, ergänzt: "Piu o meno due chilometri." Ein zwei Kilometer langer Tunnel, und dann auch noch den Berg hoch - das flößt mir schon ein wenig Respekt ein. Ich frage nochmal nach, erhalte noch einige Informationen über das Finden des Campingplatzes; erfahre, dass ich, wenn ich morgen zum Lago di Garda weiter will, eh in die Richtung fahren müßte; und dann strample ich auch schon los. In einem Kreisverkehr kämpfe ich mich zwischen den Autos durch, immer den Schildern "Riva del Garda" folgend, und schon bin ich auf einer vierspurigen Straße mit zehn bis zwölf Prozent Steigung gelandet. "Dann wollen wir mal" geht es mir durch den Kopf, während die Autos an mir vorbeirauschen. Da ist er, der Tunnel, aber nur 104 Meter lang. "Na, das werden wir ja wohl noch schaffen" - und schon bin ich durch. Und im nächsten Moment ziemlich überrascht. Der nun folgende eineinhalb Kilometer lange Tunnel ist nämlich nur für den Gegenverkehr. Den Berg hoch geht's rechts am Tunnel vorbei. Sollten die beiden sich geirrt haben? Hätte ich nichts dagegen, die Sache ist nämlich auch so anstrengend genug. Alle paar hundert Meter mache ich Pause. Nach knapp zwei Kilometern vereinen sich die beiden Fahrtrichtungen wieder - nur um sich direkt wieder zu trennen. Da ist er, der Tunnel, diesmal für den Berg-hoch-Verkehr. Zwar nur 854 Meter lang, aber dafür auch nur äußerst spärlich beleuchtet. Erstmal Pause machen, Wasserflaschen füllen, durchatmen. Ein Auto hält vor mir. Keine Ahnung, was er will - ich habe nur noch den Tunnel im Kopf. Ich schiebe wenige Meter bis zum Tunneleingang. Es ist, als würde ich mich an einen Feind herantasten. Ist da ein Gehweg auf der rechten Seite? Ja, aber zu schmal. Auf der linken Seite? Ja, aber auch nicht breiter. Ich muß wohl fahren. Nochmal durchatmen, Dynamo an den Reifen, eine Lücke im Verkehr abwarten, und los! In der zweitkleinsten Übersetzung fange ich an, und ich komme trotz der Steigung auch vorwärts - aber nicht weit. Nach etwa 300 Metern sind meine Kräfte am Ende. Ich fahre rechts ran, und springe nach rechts vom Fahrrad ab. Da stehen wir nun: Das Fahrrad auf der rechten Fahrbahnmarkierung, ich auf dem "Gehweg", den Ellbogen auf den Sattel gestützt, und wir beide zusammen im Halbdunkel. Aber schon im nächsten Moment bekomme ich die Gewißheit, dass die Autofahrer uns sehen: Einer blendet auf, um herauszufinden, was da vor ihm am Straßenrand steht, und alle fahren in gebührendem Abstand vorbei. Einige hupen auch. Wie nun weiter? Ich fange an zu schieben. Der Dynamo ist immer noch an. Mehrmals scheuert die rechte Vorderrad-Packtasche an der Bordsteinkante entlang. Die Schieberei ist anstrengend, funktioniert aber gut.

Irgendwann bin ich durch. Oberhalb des Tunnels ist eine Haltebucht. Ich stelle das Fahrrad ab und setze mich auf den Boden, um wieder ein wenig zu Kräften zu kommen. Ich muss noch ein bißchen weiter bergauf. Nach einer Pause, einem Happen zu essen und gut einem Liter Flüssigkeit geht es weiter. Langsam arbeite ich mich die paar Serpentinen hinauf, bevor die Straße eben wird. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis am rechten Straßenrand ein Abzweig auftaucht und ein Wegweiser. Zu einem Campingplatz "direkt am See". Ich fahre das Gefälle hinab, wobei mir schon vor dem Anstieg am nächsten Morgen graut. Völlig verschwitzt, mit weißen Krusten auf dem Shirt, erreiche ich den Campingplatz.

Leider bin ich nach der Plackerei im Tunnel auf einem ziemlich miesen und rückständigen Platz gelandet. Duschen nur von 10:30 bis 17:00 Uhr. Scheisse! Also kurz Oberkörper, Arme und Gesicht am Waschbecken waschen und das war's. Vorher habe ich kaum das Zelt aufgebaut bekommen, so wackelig sind meine Beine nach dem heutigen Tag. Ich kann die körperliche Erschöpfung richtig spüren. Ich koche mir nicht mal mehr etwas. Zum Glück ist es alsbald auch dunkel, so dass ich mir keine Gedanken machen muß, wie ich den Rest des Abends verbringe. Auf dem Nebenplatz steht das Wohnmobil einer deutschen Familie mit zwei Kindern, die sich aber auch bald ins Innere des Wagens zurückzieht und deren Mitglieder wohl zur ruhigeren Sorte Mensch gehören. Schwimmen gehen ist nicht drin heute: zwar liegt der Campingplatz am See, aber durch einen Zaun und ein kleines Kiefernwäldchen von diesem getrennt. Was direkt am See liegt, ist ein Bootssteg und die Campingplatzkneipe, in der sich auch junge Leute aufhalten. Aber irgendwie bin ich jetzt auch zu kaputt, um mir dort an der Bar noch ein oder zwei Bier reinzupfeifen. Also besteht meine Abendverpflegung aus etwas Eistee und sonst nichts. Gute Nacht!