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12.Tag - Freitag, 1. September 1995

Beim Frühstück unterhalte ich mich mit dem langhaarigen, vielleicht gerade mal sechsjährigen Sohn der Nachbarcamper. Hierbei handelt es sich allem Anschein nach um eine Ökofamilie, die aber immerhin mit einem Mercedes hier angefahren ist. Der Kleine wundert sich, wieso ich nach zwei Tagen schon wieder abreise. Meine Antwort "Wenn ich länger bleibe, werde ich hier noch seßhaft" finde ich im Nachhinein übrigens selber ziemlich kultig.

Die Radwegeinformation, die es an der Rezeption des Campingplatzes kostenlos gab, hat mir die Planung der Strecke vom Lago Maggiore zum Sankt Gotthard etwas erleichtert. Es gibt wohl einen mehr oder weniger schönen, ausgeschilderten Radweg, der mal auf der Straße, mal weitab vom Autoverkehr entlang führt. So fängt es denn auch an: Am Nordostufer des Lago Maggiore gibt es eine recht nährstoffreiche, intensiv landwirtschaftlich genutzte Region (das Misox), deren Boden über Jahrtausende vom Fluß Ticino angeschwemmt wurde, welcher übrigens dieser Region ihren Namen gab (bzw. die deutsche Übersetzung "Tessin"). Südlich und nördlich dieses fruchtbaren Tales führen Straßen flußaufwärts,die sich weiter oben treffen. Der Radweg dagegen führt mittendurch, und so strample ich hier für etwa eineinhalb Stunden Kilometer um Kilometer dem Gotthard entgegen, ohne von irgendwelchen Autos belästigt zu werden.

Auf einem Radweg Richtung St. Gotthart
Ein Stück des Radweges, auf dem man vom Lago Maggiore Richtung St. Gotthart fährt.

Das bleibt nicht immer so. In den Ortschaften bedarf es schon eines guten Orientierungssinns, um jedesmal den Weg wiederzufinden. Dies gilt speziell für das etwas größere Bellinzona, das, am Schnittpunkt mehrerer Täler gelegen, eine historische Bedeutung besitzt, da von hier aus über mehrere Jahrhunderte hinweg der Südzugang zu gleich vier Alpenpässen kontrolliert wurde. Davon zeugen noch heute die drei Burgen der Stadt: das Castelgrande, welches erst vor einigen Jahren renoviert wurde, die Burg Montebello aus dem 13. Jahrhundert, sowie die Burg Sasso Corbaro, die 1479 erbaut wurde. Kaum zu glauben, dass diese Region schon im finsteren Mittelalter besiedelt war.
Am nördlichen Ortsausgang von Bellinzona, wo sich die Straße aufspaltet und links zum Gotthard, rechts zum San Bernardino führt, darf man sich auch unter den motorisierten Verkehr mischen. Gefährlich ist es allerdings nirgends, da der Großteil des Verkehrs natürlich die Autobahn benutzt, die sich neben Fluß, Landstraße und Bahnlinie auch noch durch dieses Tal nach oben windet.

Hier beginnt die sogenannte Riviera - nein, nicht die am Mittelmeer, sondern ein Tal, welches über etwa 20 Kilometer die Städte Bellinzona und Biasca verbindet. Der Radweg läuft hier zum Teil auf kleinen Nebensträßchen, was das Fahren sehr angenehm macht. In Biasca, das als Herzstück der Tre Valli (Drei Täler) genannten Region gilt, verzweigt sich die Sträße erneut: rechts gehts zum Lukmanierpaß, der mit 1916 Metern deutlich niedriger als der Sankt Gotthard ist, und auch der letzte Paß meiner Tour sein könnte, da auf seiner Nordseite das Rheintal wartet. Aber da es ja gerade die Berge sind, die mich reizen, bleibe ich bei meinem Plan, den St. Gotthard zu überqueren und dann noch eine Runde durch die Schweiz zu drehen.

Bei dem Versuch, die Straße gegen einen vermeintlichen Radweg zu tauschen, lande ich auf einmal im Nirgendwo, was ich dann zwar für eine Pause nutze, aber letztendlich muss ich dann doch wieder ein paar Kilometer zurückfahren. Die Tatsache, dass ich die Kirche von San Nicolao, die als schönstes romanisches Bauwerk des Tessins gilt und in dem kleinen Dorf Giornico steht, auf diese Weise zwei Mal zu Gesicht bekommen, hilft mir dabei auch nicht weiter. Auf dem weiteren Weg nach oben wird zwischendurch die Straße so steil, dass es mir Schwierigkeiten macht, mir vorzustellen, was morgen noch kommen soll. Die Bahn hat das Problem auf ihre Weise gelöst: Der Zug fährt in einen Tunnel hinein, der sich im Fels spiralförmig nach oben windet, so daß die Bahnreisenden einige Minuten später an genau derselben Stelle nochmal sind, halt nur etwa fünfzig Höhenmeter weiter oben.

Bachlauf im Tessin
Dieses Bächlein sieht gar nicht so aus, als könne es das Tal graben, durch das ich mich zum Brenner hocharbeite.

In diesem Tal, das den Namen Leventina trägt, ist die Straße streckenweise recht akrobatisch an den Berghang gebaut, wenn auch nicht so extrem wie am Gardasee. Als die Orte Chiggiogna und Faido auftauchen, wird das Tal nochmal breiter und flacher. Laut meiner Karte müßte in Chiggognia, auf einer Höhe von etwa 700 Metern, der letzte Campingplatz vor dem Paß sein, und den nehme ich dann auch. Dieser Platz ist sehr klein (und leider auch nicht gerade billig), aber was will man hier oben auch erwarten? Erst beim Einkaufen im einen Kilometer weiter liegenden Faido erfahre ich, dass es auch hier einen Campingplatz gibt. Naja, vermutlich ist der aber auch nicht billiger, und ich sollte stattdessen froh sein, dass man hier überhaupt irgendwo einkaufen kann. Es ist schon bemerkenswert, dass jeden Sommer wahre Menschenmassen über die Autobahn N2, die den St. Gotthard in einem Tunnel unterquert, von Nord nach Süd und wieder zurück geschleust werden, aber man sich nur einen Kilometer weg, in einem der kleinen Dörfchen im Tal, wie am Ende der Welt vorkommt. Ich habe jedenfalls das Gefühl, dass ich mich immer weiter von der Zivilisation entferne - zumindest, solange ich den St. Gotthard noch vor mir habe.

Auf der Rückfahrt zum Campingplatz habe ich auf einmal einen anderen Radfahrer hinter mir. Es geht leicht bergab, und ich gebe daher mal richtig Gas. Der Typ läßt sich jedoch genauso wenig beeindrucken wie abschütteln. Als ich links zum Campingplatz abbiege, folgt er mir. Auch noch, als ich schon auf dem Campingplatz bin. Wie sollte es anders sein: Auch er ist mit dem Fahrrad hier. Und ist noch viel härter drauf als ich: Zum einen hat er nur beste Ausrüstung, und zum anderen ist er mit dem Fahrrad hierher gefahren, um morgen am Alpen-Brevet teilzunehmen. Dies ist eine mehrere hundert Kilometer lange Rundfahrt über mehrere sehr hohe Alpenpässe. Mir wird klar, dass ich, wie auch in Riva del Garda, mal wieder zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort bin. Zwar darf ich mal kurz durch eine Art Programmheft lesen, das er dabei hat, aber zu einer großen Unterhaltung kommt es nicht mehr, da er sich zeitig in sein Zelt verzieht. Ich erfahre jedoch, dass der Ausgangspunkt des Ganzen Airolo ist, auf 1100 Metern Höhe und noch etwa 20 Kilometer vor uns, und dass dort ein zeitiger Start empfohlen wird, um die Strecke im Hellen hinter sich zu bringen.

Am nächsten Morgen um drei Uhr höre ich seinen Wecker.