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13.Tag - Samstag, 2. September 1995

Noch 32km bis zum St. Gotthard
Heute ist der große Tag: Noch 32 Kilometer fehlen mir zum höchsten Punkt meiner Tour.

Anders als der wahnsinnige Extremradler, den ich gestern kennengelernt habe, lasse ich den Tag eher gemütlich angehen. Auch wenn das nicht unbedingt notwendig wäre, da auch ich recht früh in meinen Schlafsack gekommen bin. Der Dorfrundgang, den ich mir im Dunkeln noch genehmigt habe, hat eigentlich nur bestätigt, was ich vorher ahnte: Hier ist wirklich überhaupt gar nix los. Chiggiogna ist einfach nur ein kleines Dörfchen mit einigen Einfamilienhäusern und einem kleinen Campingplatz. Der einzige Broterwerb, den es für die Leute hier gibt, kann eigentlich nur die Landwirtschaft sein. Noch nicht mal für den Tourismus ist man hier gerüstet.

Die sanitären Anlagen scheinen das unterstreichen zu wollen: Für jedes der beiden Geschlechter (immerhin) gibt es genau ein Klo, ein Waschbecken und eine Dusche. Zumindest vermute ich, dass es bei den Damen genauso aussieht wie bei uns. Und um ehrlich zu sein, habe ich das Gefühl, dass diese Ausstattung zur meisten Zeit auch ausreicht. Das eine Waschbecken wird nämlich schon eine Viertelstunde lang von mir besetzt, da ich mich auch mal wieder rasieren will, und in der Zeit setzt kein anderer den Fuß in diese Tür. Das finde ich alles so kultig, dass ich mir direkt noch einen Aufkleber kaufe, der fortan meine Lenkertasche zieren wird.

Trotz allem bin ich früh dran; als ich mich auf die Straße begebe, ist die Sonne gerade hinter den Bergen im Osten hervorgekommen. 32 Kilometer habe ich vor mir. Und die sind meistens bergauf. Es geht allerdings recht gemächlich los. Die erste Herausforderung kommt an einer Baustelle auf mich zu, bei der die Ampelschaltung mal wieder nicht auf Radfahrer ausgelegt ist. Ich fahre jedoch munter weiter, als mir auf der einen Fahrspur schon Autos entgegenkommen. Schon hier treffe ich einige eher sportlich aussehende Radler, die wohl auch am Alpen-Brevet teilnehmen. Dieses offeriert zwei Touren unterschiedlicher Länge: die schwierigere beinhaltet Nufenen-, Furka-, Oberalp- und Lukmanierpaß, während die leichtere nur zwei davon mitnimmt und den Rückweg über den St. Gotthard antritt. Bei einer der beiden sind die Jungs und Mädels schon am Morgen von Airolo aus bergab unterwegs, kommen mir also entgegen. Die meisten davon halten es jedoch nicht für nötig, mich zu grüßen. Einige Radfahrer scheinen wohl gleicher zu sein als andere, und wenn jemand dann auch noch ein Fahrrad fährt, das über zehn Kilo wiegt, sollte man den wohl besser keines Blickes würdigen. Nicht alle sind so - mit einigen der Sportler tauscht man schonmal ein freundliches "Hallo" oder hebt zum Gruß die Hand - aber die Statistik offenbart die Radsportler eher als unfreundliche Sippe.

Anstieg zum St. Gotthard durch wildromantische Schluchten
Durch eine teilweise wildromantische Schlucht schlängelt sich die Paßstraße nach oben, so wie hier auf gerade mal 900 Höhenmetern.

Aber ich fahre hier sowieso mein ganz eigenes Rennen. Ich weiß, dass der heutige Tag einiges von mir fordern wird, deswegen lasse ich es langsam angehen. Da die Luft frisch und kühl ist, macht das Fahren Spaß, auch wenn es bergauf geht. An einer Haltebucht mache ich eine kurze Pause, und genieße den Blick zurück, bei dem die Morgensonne die Piottino-Schlucht beleuchtet, durch die sich diese Straße zum Sankt Gotthard hocharbeitet. Von den Palmen und Kakteen in Locarno ist hier nichts mehr zu sehen; auch die Kiefern sind mittlerweile spärlicher geworden. Dunkle Nadelwälder mit Fichten dominieren hier das Bild - es wird also schon recht alpin.

Gegen elf Uhr errreiche ich Airolo, den höchsten Ort auf dieser Straße. Zumindest südlich der Alpen, denn jenseits des Passes wartet Andermatt mit 1400 Höhenmetern, während es Airolo nur auf etwa 1100 bringt. Hier hat man, im Gegensatz zu Chiggiogna, 400 Meter weiter unten, schon den Tourismus als Geldquelle entdeckt - Airolo ist ein beliebter Sommer- und Winterkurort. Überall sieht man Andenkenläden, Straßencafés, Restaurants sowie Geschäfte für Wanderzubehör. Heute jedoch steht das Dorf ganz im Zeichen der Radfahrer. Es wimmelt geradezu von ihnen, und einer ist bunter als der andere. Wobei sicher die wenigsten eine solche Leistung vollbringen wie mein Zeltnachbar, der heute morgen noch hier hinaufgefahren ist, um dann von hier aus die vier Zweitausender in Angriff zu nehmen.

Da ich vor dem weiteren Anstieg noch ein zweites Frühstück zu mir nehmen will, aber im Dorf jeder Quadratmeter schon besetzt ist, fahre ich einfach auf der anderen Seite aus dem Dorf hinaus. Ein Autofahrer, der mir entgegenkommt, wedelt mit dem erhobenen Zeigefinger, so als wolle er sagen, dass ich diese Strecke mit meinem Gepäck besser nicht weiter hinauffahre. Darüber kann ich eigentlich nur lächeln, da es sich halt um einen Autofahrer handelt. Allerdings weiss auch ich, dass tausend Höhenmeter kein Pappenstiel sind. Nur zu gut kann ich mich noch an den Brenner erinnern.

Nach einer kurzen Pause fahre ich weiter. Die Autobahn ist mittlerweile in einem Tunnel verschwunden, die Bahnlinie ebenso, und der Fluß kommt aus dem Tal, das in westlicher Richtung zum Nufenenpaß führt. Ich spüre den Gegenwind, der dieses Tal hinunterweht, und selbst, wenn ich ursprünglich jenen Paß hätte fahren wollen, hätte ich mich jetzt umentschieden. Die Landstraße, auf der ich mich befinde, wagt sich jedoch rechts den Berg weiter hinauf, und das gleich doppelt. Während ich die alte Paßstraße nehme, die sich, teilweise noch kopfsteingepflastert, in engen Serpentinen nach oben windet, benutzen fast alle Autos die neue Paßstraße, die sich, naja, in nicht ganz so engen Serpentinen nach oben windet. In der Tat hat man von einer der beiden Straßen die andere immer im Blick, die eine über- oder unterquert mal die andere, und die neue läßt halt nur hin und wieder eine Serpentine aus.

Rückblick auf Airolo
Nördlich von Airolo genieße ich den Blick zurück und sehe zu, wie die Brenner-Autobahn unter mir im Berg verschwindet.

Als ich so etwa bei 1500 Metern angelangt bin, mache ich einen Fehler: Ich folge einem Wegweiser. Dieser führt mich zielstrebig auf die neue Straße, und als ich merke, dass ich von hier aus nicht mehr auf die alte Straße kann, habe ich schon wieder 100 Höhenmeter überwunden. Auch hier führt die neue nochmal auf einer Brücke über die alte Straße, aber der Weg dorthin wäre schon mit ein bißchen wagemutiger Kletterei verbunden. Also füge ich mich in mein Schicksal. Während die alte Straße nun weiter in engen Kehren Richtung Paß führt, weicht die neue Richtung Westen aus und gewinnt mit einer scheinbar immer gleichen Steigung langsam an Höhe. Eine abenteuerliche Stelzenkonstruktion, die durch eine Kehre der Straße nötig wurde, gewährt mir noch mal einen letzten Blick in das unter mir liegende Tal und den Flußlauf des Ticino, der mich nun schon seit Locarno begleitet. Danach steigt die Straße, nun wieder in Richtung Nordosten führend, weiter den Berg hoch.

Das Fahren auf dieser Steigung erfolgt nach einem einfachen Schema, das sich nun langsam eingespielt hat. Erst im Wiegetritt in der zweitkleinsten Übersetzung für einige hundert Meter, dann den kleinsten Gang nehmen, hinsetzen, und einige hundert Meter so fahren. Dann wieder raus aus dem Sattel, einen Gang hochschalten, und so weiter und so fort. Dies scheint mir zumindest recht effektiv zu sein. Auch hier kommen mir wieder verstärkt Teilnehmer am Alpen-Brevet entgegen. Ob die die alte Paßstraße auch nicht gefunden haben?

Die alte Gotthard-Paßstraße
Nachdem ich irgendwie dann doch auf die neue Paßstraße gelangt bin, werde ich zumindest durch einen Blick auf die Serpentinen der alten entschädigt.

So arbeite ich mich langsam immer höher. Der Aufstieg wird unterbrochen von zwei kurzen Pausen, bevor es in einen Tunnel hineingeht. Dieser ist aber gut beleuchtet, und wird irgendwann zu einem halb offenen Tunnel, aus dem ich jetzt rechts hinausgucken kann und sehe, wie sich ein alter VW-Bus die alte Paßstraße emporarbeitet. "Der hat es wohl auch nicht einfacher als ich" denke ich bei mir. Mittlerweile ist es kühl geworden. Ich bin immer noch in kurzer Hose und Trägershirt unterwegs, und hin und wieder tropft mir Schmelzwasser von der Decke dieses Halbtunnels auf die nackten Oberschenkel.

Kurz vor der Paßhöhe endet dieser Tunnel, die alte Straße nähert sich von rechts derjenigen, auf der ich mich befinde. Bäume gibt es hier oben offenbar keine mehr, lediglich ein Gebäude, das wohl ein Museum beherbergt. Was ich vermisse, ist ein Schild, das anzeigt, wo der höchste Punkt ist. Da es sowas eigentlich auf jedem Paß gibt, vermute ich mal, das ich es übersehen habe. Daher halte ich an dem Punkt an, den ich für den höchsten halte, schiebe mein Rad durch den Schnee auf den Seitenstreifen, atme tief durch und lasse mich von einem unglaublichen Gefühl der Zufriedenheit durchdringen: Ich hab's geschaftt!

Noch bevor ich das auch hier obligatorische Foto mache (bei dem ich mich dann allerdings wirklich ein wenig ärgere, dass es kein Schild gibt, vor dem ich mein Fahrrad fotografieren könnte) ziehe ich mich um. Pullover, Jogginghose, Jacke ... alles muss dran glauben. Sogar die Handschuhe packe ich aus, um sie vor der Weiterfahrt anzuziehen. Aber dann freue ich mich einfach, oben zu sein. Es ist jetzt ein Uhr nachmittags, etwas über vier Stunden habe ich also seit meinem Nachtlager gebraucht - das ist gar nicht mal so schlecht.

Auf dem St. Gotthard-Paß, 2108m
Der sprichwörtliche Höhepunkt der Tour: St. Gotthard-Paß, 2108 Meter.

Den großen Touristenandrang, den ich schon auf anderen Pässen gesehen habe, gibt es hier allerdings nicht. Ein Enduro-Fahrer fällt mir auf, der von Norden kommt, ein Foto macht, und nach ein paar Minuten wieder nach Norden runterfährt. Aber dennoch ist alles sehr beschaulich. Keine Andenkenlädchen oder Imbißbuden oder dergleichen. Einfach nur eine Paßhöhe jenseits der Baumgrenze, mit etwas Schnee am Straßenrand, ein paar Leuten, die zufällig hier entlangkommen, und einem Langhaarigen, der mit einem schwer beladenen Fahrrad hier hochgefahren ist und nun einfach rumsteht und zufrieden aus der Wäsche guckt.

Nach etwa zwanzig Minuten fahre ich weiter, und die Nordseite des Passes sieht schon viel unwirtlicher aus. Dieses Tal hat schon eher die typische U-Form eines Tales, das - so haben wir damals im Erdkundeunterricht gelernt - von Gletschern geformt wurde. Dennoch ist es hier irgendwie wild-romantisch, und da es jetzt mit jedem Meter, den ich bergab fahre, wieder wärmer wird, fühle ich mich auch nicht unwohl. Noch bevor ich Andermatt erreiche, zweigt links die Straße zum über 2400 Meter hohen Furkapaß ab. Das wäre eine mögliche Route für mich. Um genau zu sein: die einzig mögliche, wenn ich nicht den langen Umweg um den Vierwaldstätter See herum nehmen will - mal abgesehen vom geschlossenen Sustenpaß. Aber wie war das doch gleich: Der Weg ist das Ziel? Und da ich der Meinung bin, das meine Beine heute schon genug geleistet haben, lasse ich den Paß links liegen und rolle weiter bergab, bis ich Andermatt erreiche.

Hier ist ein anderes Lager der Radsportler, und in so einem kleinen Dorf wie Andermatt wimmelt es schon von Radlern, selbst wenn es nur ein paar hundert sind. Ich kaufe hier nur nochmal etwas zum Trinken ein, bevor ich meine Fahrt bergab fortsetze. Auch hier ist die Straße abenteuerlich an den Berghang gebaut. Kurz nach Andermatt zweigt links die Straße zum 2224 Meter hohen Sustenpaß ab, über den ich nach Westen fahren könnte, wenn er nicht aufgrund von Schneefall geschlossen wäre ... und ich nicht sowieso weiter bergab fahren wollte. Nach einigen hundert Höhenmetern kommen mir zwei Radfahrer entgegen, und ich wünsche mir, dass ich nie die Straße hoch fahren muss, die ich gerade runterfahre. Aber das beweist wieder nur mal, dass die Steigungen nie so schlimm sind, wie man es sich beim Weg nach unten vorstellt - schließlich habe ich heute auch schon eine solche Höhendifferenz überwunden.

Aber irgendwann hat auch die längste Abfahrt ein Ende (in diesem Fall nach 35 Kilometern), und ich erreiche den Kanton Uri, und kurz danach den Vierwaldstätter See. Hier, wo ich wieder treten muss, um vorwärts zu kommen, merke ich, wie schwer mir das fällt. Ich schiebe es mal auf die Anstrengung beim Aufstieg, aber auch die Auskühlung der Oberschenkel wird ihren Teil beigetragen haben, da ich mich schon in Andermatt wieder sämtlicher wärmender Kleidungsstücke entledigt habe.

Ankunft am Vierwaldstätter See
Am Ende einer atemberaubenden Abfahrt wartet der Vierwaldstätter See auf mich.

So suche ich auch schon, noch bevor die Straße malerisch über dem Ufer des Sees entlangführt, nach einem Campingplatz. In Altdorf, am Südostzipfel des Sees, werde ich fündig: ein kurzer Feldweg rechts ab führt zum "Remo-Camp". Da ich nicht weiß, wo es den nächsten Platz gibt, nehme ich - mal wieder - den ersten, der sich mir anbietet, was sich - auch mal wieder - als Fehler herausstellt. Dieser Platz liegt nämlich direkt an der Hauptstraße, und ist, um es mal mit klaren Worten auszudrücken, ziemlich asozial. Zunächst mal muss ich einen "Kehrichtsack" kaufen (für zwei Franken), in dem ich vermutlich mein ganzes Gepäck unterbringen könnte - und das, obwohl der heute von mir verursachte Müll locker in einen kleinen Gefrierbeutel passen würde. Aber das wirklich interessante ist vermutlich, dass die Haupteinnahmequelle der Platzwartin wohl der Verkauf von Bier an ihre Gäste ist. Etwa zehn Wohnwagen stehen auf dem recht kleinen Platz, und etwa zehn abgehalfterte Mittvierziger sitzen abends vor dem Campingplatz-Kiosk und saufen.

Noch während meine Nudeln auf dem Kocher vor sich hin kochen, fallen mir meine Kumpels ein, die (es ist Samstagabend) jetzt vermutlich in geselliger Runde in irgendeiner Kneipe sitzen und Spaß haben. Und ich sitze hier und ziehe es vor, mein Bier allein zu trinken, weil die gesellige Camper-Runde vor dem Kiosk nun gar nicht so meine Kragenweite ist. Naja, zumindest genehmige ich mir zwei Bier zum Abendessen. Verdient habe ich mir sie, könnte ich doch jetzt einfach Richtung Rhein und dann immer bergab fahren. Das werde ich aber nicht machen. Mein Plan ist vielmehr, den Vierwaldstätter See zu umrunden und anschließend wieder nach Südwesten umzuschwenken, um noch eine Runde durch die Schweiz dranzuhängen.