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9.Tag - Dienstag, 29. August 1995

Irgendwo in Bergamo...
Mittagspause in Bergamo. Leider habe ich keine Ahnung, welche wichtige Person hier dargestellt ist...

Nach dem obligatorischen Besuch des Supermarktes am nächsten Morgen geht die Fahrt weiter nach Westen. Die Sonne scheint, und auch wenn ich mich auf einer viel befahrenen Straße bewege, genieße ich die Landschaft. Zur Linken strecken sich die Ausläufer der Po-Ebene aus. Irgendwo, von hier aus noch durch die Erdkrümmung versteckt, liegt Mailand. Im Norden ist dagegen der südliche Rand der italienischen Alpen ständig in Sichtweite. Viel passiert auch auf dieser Strecke nicht. Während ich gedanklich noch am Verlust meiner ec-Karte hänge, der meine Reisekasse für die nächsten zwei Tag sehr stark reduziert hat, erreiche ich Bergamo, diese kleine oberitalienische Stadt, und fahre einfach mitten durch, da dies laut meiner Karte die sinnvollste Möglichkeit darstellt. Jedes Umfahren der Stadt hätte einen nicht zu rechfertigenden Umweg dargestellt.

Nach einer längeren Pause am Fuße eines Brunnens, der mit einer mir unbekannten historischen Persönlichkeit verziert ist, geht es weiter. Die Landschaft hier ist sehr fruchtbar und dementsprechend dicht besiedelt. Soweit es geht, weiche ich auf Nebenstrecken aus. Hier kommt es dann auch häufiger vor, dass die Autos hupen, bevor sie zum Überholen ansetzen. Das ist kein Macho-Gehabe der Italiener, sondern ist hier wohl einfach so üblich und soll wohl auch der Sicherheit des Überholten dienen - was allerdings nichts daran ändert, dass ich mich die ersten zwei Male, in denen ich so angehupt werde, ziemlich erschrecke.

Irgendwann wird die Landschaft wieder hügeliger und der Verkehr weniger. Und ich stelle fest, dass meine Straßenkarte im Maßstab 1:300.000 nicht so geeignet ist für eine Radtour. Sie hat nämlich den großen Nachteil, dass kleine Dörfer nur als Punkt eingetragen sind. Dazu kommt, dass man hier eine Ortschaft erst verläßt, wenn man die nächste betritt: Die Ortsschilder stehen hier nicht dort, wo die Bebauung aufhört, sondern, wo das Land eines Dorfes aufhört - und das ist eben an der Grenze zum nächsten Dorf. Mehr als einmal kommt es vor, dass ich der Karte die Information "Nach dem nächsten Dorf muss ich links abbiegen" entnehme, voller Tatendrang durch das Dorf fahre, nur um dann festzustellen, dass sich die Abzweigung eigentlich mitten im Dorf befindet. Das beschert mir den ein oder anderen Umweg, und Umwege möchte man als Radfahrer ja nun doch lieber vermeiden.

Brückenkonstruktion im Hinterland von Oberitalien
Die Brücken im Hinterland sind manchmal schon ein Erlebnis für sich. Diese hier ist zum Beispiel nur einspurig befahrbar. Dafür aber zweigeschossig.

Entschädigt werde ich durch landschaftliche und architektonische Reize sowie freundliche Menschen. An einem Brunnen am Straßenrand komme ich spontan mit einem italienischen Rennradfahrer ins Gespräch, und in einem Mischmasch aus Deutsch, Italienisch und Englisch tauschen wir Informationen über Herkunft und Reisepläne aus - wenn man das bei meinem Gesprächspartner, der nur mal eben zum Training unterwegs war, denn so nennen kann. Vor einer alten rostigen Brücke werde ich durch eine Ampel aufgehalten, da der Verkehr auf der Brücke nur einspurig fließen kann. Der Gegenverkehr nimmt es hierbei in Kauf, etwas länger als normal warten zu müssen, da unsere Grünphase offenbar nicht auf Radfahrer ausgelegt ist.

Als eine überaus gutaussehende Rennradlerin geradezu an mir vorbeifliegt, wird mir nicht nur bewußt, dass die Italiener ein sehr radsportbegeistertes Volk sind, sondern auch, dass man sich auf so einer Radtour auch schon mal einsam fühlen kann. Meine (vollkommen unrealistischen) Hoffnungen, dass das Mädel im nächsten Ort auch eine Pause machen wird, bewahrheiten sich natürlich nicht, und so teile ich meinen Snack mal wieder nur mit der Landschaft und den vorbeifahrenden Autos.

Im oberitalienischen Voralpenland
Der Blick nach Norden im italienischen Voralpenland, irgendwo östlich von Como.

In Montorfano soll es einen Campingplatz geben. Als ich diesen nicht auf Anhieb finde, beschließe ich kurzerhand, nach Como weiterzufahren, an der Südspitze des Comer Sees. Dort sehe ich zwar Schilder zu Campingplätzen, werde aber nicht fündig. Und nachdem ich so eine halbe Stunde durch die Stadt geirrt bin, passiert das Unvermeidliche. "Pfft" macht es kurz, und dann rolle ich auf der Felge. Mist. Da stehe ich nun mitten in Como, es ist später Nachmittag, und dann habe ich auch noch einen Platten. Da weit und breit kein Campingplatz zu sehen ist, setze ich mich einfach auf den Gehweg, baue das Gepäck ab und das Hinterrad aus, und fange an zu flicken. Als ich die Tube Gummilösung öffne, steigt in mir unglaublicher Ärger über meine eigene Dummheit hoch: Das Flickzeug ist vermutlich schon zehn Jahre alt, und die Gummilösung hat die Konsistenz von den gleichnamigen Bärchen. Nur kann man damit leider keinen Reifen mehr flicken. Aber was soll ich machen? In Ermangelung eines Fahrradgeschäftes versuche ich es trotzdem. Erfolglos. Der Flicken löst sich sofort wieder vom Reifen ab.

Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter. Ich schaue mich um und blicke einen alten Mann an, der so aussieht, wie man sich einen typischen alten Italiener vorstellt, inklusive einer Art Baskenmütze auf dem Kopf. Ohne ein Wort zu sagen lächelt er mich an, und in seiner ausgestreckten rechten Hand erblicke ich eine Dose Flickzeug. Komplett mit Flicken, Gummilösung und italienischer Anleitung. Sieht so ein Engel aus? "Grazie! Mille Grazie!" schallt es aus mir heraus. Der Mann lächelt noch immer und macht eine Handbewegung, in die ich ein "Ist schon okay, Junge." hineininterpretiere, und schlurft davon. Ich blicke ihm nach und kann mein Glück immer noch nicht fassen.

Während ich nun erfolgreich den Schaden behebe, kommt noch eine etwa 50-jährige Italienerin vorbei, die auch den Vorstellungen entsprechend aussieht: mit vollbepackten Korb und Kopftuch. Sie redet auf mich ein - natürlich auf Italienisch - und lacht dabei. Vermutlich sehe ich ziemlich albern aus bei dem Versuch, auch nur eines ihrer Worte zu verstehen. Als ich raushöre, dass sie wissen will, ob Radfahren Arbeit sei, antworte ich "Si.", woraufhin sie aus ihrem Korb einen Apfel hervorkramt und ihn mir in die ziemlich verdreckten Hände drückt. Ich bin verblüfft und schaffe es gerade so, mich zu bedanken, bevor sie, immer noch redend, weitergeht.

Bei soviel Freundlichkeit, die mir in Como entgegengebracht wurde, läßt sich das folgende nun auch viel einfacher ertragen. Die Schilder zum Campingplatz führen nämlich nach Osten aus der Stadt raus, wobei es natürlich bergauf geht, und geradewegs nach Montorfano, wo ich vor drei Stunden schon einmal war. Diesmal finde ich den Campingplatz, und baue in der Dämmerung mein Zelt auf. Es gibt sogar einen Swimmingpool hier, zu dessen Benutzung es mir allerdings zu spät ist. Dafür sehe ich gerade mal 1 deutsches Wohnmobil, der Rest sind Italiener. Im Laufe des Abends treffen noch weitere Radtouristen ein, mit denen ich mich allerdings nur kurz unterhalte. Nachdem ich mich irgendwann in mein Zelt verziehe, denke ich nochmal über die Ereignisse des Nachmittags nach. Zwar bin ich umsonst nach Como gefahren, aber wer weiß, ob mir auch jemand Flickzeug in die Hand gedrückt hätte, wenn ich woanders einen Platten gehabt hätte?